Die Abenteuer des Tom Sawyer

von Mark Twain (Samuel L. Clemens)

Deutsch von H. Hellwag


Dies ist ein Auszug aus dem Buch von Kapitel 31 bis 34, wo ausführlich eine Höhle beschrieben wird. Tom Sawyer und Becky Thatcher verirren sich in diesem Labyrinth von Gängen. Die beschriebene Höhle ist die Mark-Twain-Höhle in Missouri, oder zumindest war diese Höhle die Inspiration für die Beschreibung im Roman, Mark Twain hat sich wohl ein paar Freiheiten genommen. Damals hieß diese Höhle allerdings noch anders, sie wurde später aufgrund dieses Textes nach Mark Twain benannt. Und obwohl die Höhle geräumige Gänge hat und ziemlich trocken und eben ist, kann man sich leicht vorstellen, wie beängstigend es sein kann, sich ohne anderes Licht als Kerzen zu verirren.

Mark Twain ist das Pseudonym von Samuel Langhorne Clement (*1835-✝1910). In den 1830er Jahren zog die Familie Clemens nach Hannibal, Samuel Clement besuchte die Höhle als Junge viele Male. Er beschreibt mehrere Besuche in seiner Autobiographie, erzählt, dass er seine Mutter mit Fledermäusen erschreckte, die er aus der Höhle mitbrachte. Er erzählt auch, dass Injun Joe ("Indianer-Joe") wirklich existierte.

Die Geschichte von Injun Joe, der Leichen vom Friedhof stiehlt, hat mehrere Parallelen zu dem echten Dr. Joseph Nash McDowell. Er kaufte die Höhle in den 1840er Jahren, verschloss sie und machte medizinische Experimente und Forschungen an menschlichen Leichen. Aus heutiger Sicht ist das für einen Chirurgen nicht so ungewöhnlich, aber zu dieser Zeit waren die Menschen angewidert. Vor allem, weil er angeblich die Leiche seiner 14-jährigen Tochter in einem Glaskolben in der Höhle aufbewahrte, führte ein Aufruhr unter den Einheimischen dazu, dass die Leichen entfernt wurden. Während des Bürgerkriegs hortete Dr. McDowell an seiner medizinischen Hochschule in St. Louis Waffen und Munition für die Konföderierten. So kamen Gerüchte über ein Munitionsdepot in seiner Höhle auf.

Dann machte die Höhlenbeschreibung in dem Bestseller Die Abenteuer von Tom Sawyer die Höhle berühmt. Die Zahl der Menschen, die die Höhle besuchten, stieg kontinuierlich an. Im Jahr 1886 startete John East einen Höhlenführer-Service. Damit wurde die Höhle zur ersten Schauhöhle von Missouri und war seither ununterbrochen für die Öffentlichkeit zugänglich. Die Touren wurden zuerst mit Laternen durchgeführt, bis die Höhle 1939 elektrisches Licht bekam.

Einunddreißigstes Kapitel.

Beim ersten Tagesgrauen am nächsten Tage, einem Sonntagsmorgen, kam Huck den Hügel hinaufgeschlichen und klopfte leise an des Wallisers Tür.

Die Inwohner schliefen, aber es war infolge der aufregenden Ereignisse der Nacht ein sehr leichter Schlaf. Eine Stimme fragte durchs Fenster: „Wer da?“

Hucks schüchterne Stimme antwortete in leisem Ton: „Bitte, laß mich ‘rein — ‘s ist nur Huck Finn.“

„‘s ist ein Name, dem sich die Tür bei Tag und Nacht öffnen kann, Bursche — und willkommen!“

Dies waren ungewohnte Worte für die Ohren des kleinen Herumstreichers und die angenehmsten, die er je gehört hatte. Er konnte sich nicht erinnern, die Schlußworte jemals vorher gehört zu haben.

Die Tür wurde sofort geöffnet und er schlüpfte hinein. Huck bekam einen Stuhl, und der Alte und seine Enakssöhne kleideten sich rasch an.

„Nun, mein Junge, hoff‘, ‘s geht dir gut und du hast Hunger, denn ‘s Frühstück wird mit der Sonne fertig sein und ‘s wird zudem tüchtig heiß sein — brauchst keine Sorgen zu haben. Ich und die Jungen hofften, würd‘st letzte Nacht nochmal wieder hierher kommen.“

„Hatt‘ zu große Angst,“ sagte Huck, „und machte, daß ich fortkam. Lief davon, als die Schüsse losgingen, und hielt erst nach drei Meilen an. Jetzt bin ich gekommen, weil ich wissen möchte von — Ihr wißt schon! und komm‘ vor Tageslicht, weil ich den Teufeln nicht begegnen möcht, selbst wenn sie tot wären.“

„Glaub‘s, armer Kerl, siehst aus, als hättst du ‘ne böse Nacht hinter dir — na, hier ist ‘n Bett für dich, wenn du gefrühstückt hast. Nun — tot sind sie nicht, leider — tut uns wahrhaftig leid genug. Du weißt, wir wußten nach deiner Beschreibung wohl, wo wir sie am Kragen kriegen würden, so schlichen wir auf den Zehen bis fünfzehn Schritt von ihnen entfernt — ‘s war dunkel wie in ‘nem Loch — und gerade da fühlt‘ ich, daß ich niesen müsse. ‘s war wohl grad‘ der rechte Augenblick! Ich versucht‘, es zurückzuhalten, aber keine Möglichkeit, ‘s wollte kommen und ‘s kam! Ich war voran, die Pistole schußfertig, und wie nun mein Niesen die Schufte aufschreckte, hört ich ‘n Rascheln vor mir, so rief ich: „Feuer, Jungens!“ und gab ‘nen Schuß, wo die Kerle waren. Ebenso meine Jungen. Aber wie ‘n Wind waren sie fort, diese Halunken; wir hinterher, runter durch den Wald. Denk, wir haben sie nicht getroffen. Im Laufen gaben sie noch jeder ‘nen Schuß ab, aber die Kugeln fuhren vorbei und taten uns nichts. Sobald wir sie nicht mehr hörten, gingen wir heim und weckten die Konstabler. Sie wollten ‘ne Treibjagd machen und gingen runter, die Flußufer abzusuchen, und wenn‘s hell ist, woll‘n sie und der Sheriff die Wälder vornehmen. Meine Jungen werden auch dabei sein. Wollt‘ nur, wir hätten so was wie ‘ne Beschreibung von diesen Galgenvögeln — ‘s würd ‘n gut Teil helfen. Du konntest wohl im Dunkeln nicht sehen, was es für Kerle waren, denk‘ ich?“

„Doch — sah sie schon im Dorf und folgte ihnen.“

„Famos! — Beschreib‘ sie — beschreib‘ sie, mein Junge!“

„Der eine ist der taubstumme Spanier, der hier ‘n paarmal ‘rumgeschlichen ist, der andere ein verdächtig aussehender, zerlumpter —“

„‘s ist genug, Junge, kenne die Kerle schon! Traf sie mal in den Wäldern hinter dem Garten der Witwe, und sie machten sich auch gleich davon. Fort mit euch, Burschen, sagt‘s dem Sheriff — könnt euer Frühstück morgen essen!“

Sofort verschwanden die Söhne des Alten. Als sie das Zimmer verlassen hatten, sprang Huck auf und rief: „O, bitte, sagt‘s niemand, daß ich‘s war, der sie aufgespürt hat — bitte!“

„Ist schon gut, Huck, wenn du‘s wünschst, aber du sollst doch den Lohn für das haben, was du da getan hast!“

„Ach, nein, nein! Bitte, sagt‘s nicht!“

„Sie werden‘s nicht sagen,“ beruhigte der Alte, „und ich auch nicht. Aber warum soll‘s keiner wissen?“

Huck wollte nichts weiter sagen, als daß er schon zu viel über einen der Strolche wisse und nicht wünschte, daß der von seiner Mitwisserschaft Wind bekomme, nicht um die Welt, denn ‘s wär sicher, daß er dafür getötet werden würde.

Der alte Mann versprach nochmals Schweigen und sagte: „Aber, Bursche, wie kamst du denn drauf, diesen Gaunern zu folgen? Kamen sie dir verdächtig vor?“

Huck schwieg einen Moment, während er über einer möglichst unverfänglichen Antwort brütete. Dann sagte er: „Na, seht Ihr, ich bin halt mal ‘n ungehobelter Bursche — jeder sagt‘s, und ich weiß nicht, was dagegen einzuwenden wäre — und manchmal kann ich nicht schlafen vor dem Gedanken daran, und nehm‘ mir vor, zu versuchen, mich zu ändern. ‘s war wieder so letzte Nacht. Ich konnt‘ nicht schlafen und so kam ich um Mitternacht etwa, drüber nachdenkend, auf die Straße, und wie ich an die alte Mauer beim Temperenzler-Wirtshaus komme, lehn‘ ich mich so, ohne mir was zu denken, dran. Na, gerade in dem Augenblick kamen die beiden Strolche angeschlichen, dicht an mir vorbei, was unterm Arm tragend; es ist gewiß gestohlen, denk ich. Der eine rauchte, der andere wollt‘ auch Feuer haben; blieben also gerade vor mir stehn, und beim Anzünden der Zigarren wurden ihre Gesichter erleuchtet, und ich sah, daß der größere der taubstumme Spanier war — an den weißen Haaren und dem Pflaster aus dem Auge, — und der andere war ein roher, zerlumpter Teufel.“

„Konntst auch die Lumpen beim Leuchten der Zigarren sehen?“

Dies verwirrte Huck für ‘nen Augenblick. Dann sagte er: „Ja, ich weiß nicht — aber ‘s schien mir wenigsten so.“

„Dann gingen sie weiter, und du —?“

„Folgte ihnen — ja, ‘s war so. Wollt‘ doch sehen, was sie vorhätten — sie schlichen so verdächtig davon. Ich folgte ihnen bis zum Garten der Witwe und stand dort im Dunkeln und hörte den Zerlumpten für die Witwe bitten, und der Spanier schwor, er wollt‘ der Witwe die Nasenlöcher aufschneiden; gerade so wie ich‘s Euch sagte und Euren —“

„Was, all das sagte der taubstumme Mann!“

Huck hatte wieder einen schrecklichen Mißgriff begangen. Er hatte sich die größtmöglichste Mühe gegeben, den Alten nicht erraten zu lassen, wer der Spanier sei, und doch schien ihn seine Zunge trotz aller Vorsicht in Ungelegenheiten bringen zu wollen. Er machte krampfhafte Anstrengungen, aus seiner Verwirrung herauszukommen, aber das Auge des alten Mannes haftete auf ihm, schärfer und immer schärfer. Plötzlich sagte der Walliser: „Mein guter Junge, brauchst dich nicht vor mir zu fürchten, möcht‘ um alles in der Welt nicht ein Haar auf deinem Haupte krümmen. Nein — ich würd‘ dich beschützen — verlaß dich drauf. Dieser Spanier ist nicht taubstumm. Da hast du dir was entschlüpfen lassen. Du weißt was über diesen Kerl, das du nicht verraten möchtest. Na, vertrau‘ dich mir an — sag‘ mir, was es ist, vertrau‘ mir — werd‘ dich nicht verraten!“

Huck blickte in des alten Mannes ehrliche Augen, dann beugte er sich hinüber und flüsterte ihm ins Ohr: „‘s ist kein Spanier — ‘s ist der Indianer-Joe!“

Der Walliser fuhr fast von seinem Stuhl auf. Nach kurzer Pause sagte er dann:

„‘s ist jetzt klar genug. Als du von Nasenaufschlitzen und Ohrenstutzen sprachst, dacht‘ ich, ‘s wär deine eigene Erfindung, denn kein Weißer übt so ‘ne Rache. Aber ein Indianer! Das ist freilich ‘n großer Unterschied.“

Während des Frühstücks ging die Unterhaltung weiter, in deren Verlauf der Alte erwähnte, das letzte, was sie getan hatten, bevor sie zu Bett gegangen seien, sei gewesen, mit einer Laterne die Kampfstelle nach Blutspuren zu untersuchen. Die hätten sie nicht gefunden, wohl aber ein dickes Bündel mit —

„Mit was?“

Wären die Worte Blitze gewesen, sie hätten nicht schneller aus Hucks bleichen Lippen kommen können. Seine Augen waren weit aufgerissen, sein Atem stockte — indem er auf Antwort wartete. Der Walliser stutzte — zögerte mit der Antwort — drei Sekunden — fünf Sekunden — zehn — dann endlich entgegnete er: „Mit Einbrecherwerkzeug. — Nanu, was ist‘s mit dir?“

Huck sank nieder, sein Herz klopfte stürmisch, aber er war dankerfüllt, unsagbar dankerfüllt. Der Walliser sah ihn wieder scharf an, erstaunt, und sagte:

„Ja — Einbrecherwerkzeug. Schien dich mächtig zu freun. Aber was geht das dich an? Was dachtest du denn, was wir gefunden hätten?“

Huck saß schon wieder in der Klemme. Forschende Augen richteten sich wiederum auf ihn — alles hätte er für eine glaubliche Antwort gegeben. Nichts fiel ihm ein; die forschenden Augen drangen tiefer und tiefer — eine unsinnige Antwort drängte sich ihm auf — Zeit zur Überlegung gab‘s nicht, so stieß er auf gut Glück mit schwacher Stimme heraus:

„Sonntagsschulbücher, vielleicht —“

Der arme Huck war zu verwirrt, um lächeln zu können, aber der alte Mann lachte laut und vergnügt, wurde von Kopf bis zu Fuß vom Lachen geschüttelt und sagte schließlich, so ein Lachen wäre gerade so gut wie bar Geld in der Tasche, denn es mache jede Doktorrechnung überflüssig. Dann fügte er hinzu: „Kleiner Dummkopf, bist ja ganz blaß und zitterst; bist nicht wohl. ‘s ist kein Wunder, daß du ein wenig aus der Balanze bist. Aber sollst schon wieder ‘reinkommen. Ruhe und Schlaf wird dich wohl zurechtbringen — hoff‘ ich.“

Huck ärgerte sich, daß er ein solcher Esel gewesen und solche Aufregung gezeigt hatte, hatte er doch seit dem Gespräch am Gartenzaun der Witwe ohnehin schon den Verdacht gehabt, daß jenes Bündel, das er vom Wirtshaus hatte forttragen sehen, gar nicht sein Schatz gewesen sei. Indessen hatte er das doch nur vermutet, gewußt hatte er es nicht; und so war die Erwähnung von der Auffindung des Bündels zuviel gewesen für seine Selbstbeherrschung. Da er nun aber volle Gewißheit hatte, beruhigte er sich bald und wurde ganz vergnügt. Der Schatz mußte noch in Nummer zwei sein, die Kerle würden wohl noch am gleichen Tage erwischt werden, so konnten er und Tom ohne alle Angst oder Furcht vor Überraschung nachts das Geld abholen.

Gerade war das Frühstück beendet, da klopfte es an die Tür. Huck sprang schnell in ein Versteck, denn er hatte gar keine Lust, mit den letzten Ereignissen in Verbindung gebracht zu werden. Der Walliser ließ einige Damen und Herren ein, unter ihnen die Witwe Douglas, und sah dabei noch verschiedene Gruppen von Bürgern den Hügel heraufklettern, um sich den Schauplatz anzusehen. So war also die Sache schon allgemein bekannt. Er mußte den Besuchern die Geschichte der Nacht erzählen, worauf sich die Witwe Douglas bei ihm bedankte.

„Kein Wort davon, Madam. ‘s ist noch ‘n anderer da, dem Sie mehr zu danken haben als mir und meinen Jungen, denk‘ ich; aber er hat‘s mir nicht erlaubt, seinen Namen zu sagen. Ohne ihn wären wir überhaupt gar nicht dazu gekommen.“

Dies rief solche Neugier hervor, daß schließlich die Hauptsache darüber vergessen wurde; aber der Walliser ließ seine Besucher sich ruhig die Köpfe zerbrechen und behielt sein Geheimnis für sich, auch als das ganze Dorf von der Sache erfuhr. Nachdem alle Einzelheiten erörtert waren, sagte die Witwe: „Ich las noch vorm Einschlafen im Bett, dann schlief ich so fest, daß ich von all dem Lärm nichts hörte. Warum haben Sie mich nicht geweckt?“

„Hielten‘s nicht für nötig. Die Schufte würden doch nicht wiederkommen, würden sich wohl gehütet haben; wozu also Sie wecken und zu Tode erschrecken? Übrigens haben meine drei Nigger die ganze Nacht vor Ihrem Haus Wache gehalten. Da kommen sie gerade zurück.“

Noch mehr Besucher kamen, und die Geschichte mußte während mehrerer Stunden wieder und immer wieder erzählt werden.

Während der Schulferien fiel auch die Sonntagsschule aus, trotzdem war heut alles frühzeitig in der Kirche. Das aufregende Ereignis wurde lebhaft erörtert. Es wurde erzählt, daß noch keine Spur von den Landstreichern gefunden worden sei. Als die Predigt zu Ende war, ging die Frau des Richters Thatcher auf Frau Harper zu, die mit der großen Menge den Gang hinunterschritt, und sagte: „Will meine Becky denn den ganzen Tag schlafen? Habs mir aber wohl gedacht, daß sie todmüde sein würde.“

„Ihre Becky?“

„Freilich.“ (Mit erschrockenem Blick): „Blieb sie denn abends nicht bei Ihnen?“

„Bewahre.“

Mrs. Thatcher wurde leichenblaß und sank auf eine Bank in dem Augenblick, als Tante Polly, mit einer Bekannten sich unterhaltend, vorbeikam. „Guten Morgen, Mrs. Thatcher,“ sagte sie, „guten Morgen, Mrs. Harper. Hab‘ wieder mal ‘nen verlorenen Jungen. Denk‘ wohl, Tom ist die Nacht im Haus von einer von Ihnen geblieben. Nun hat er Angst, in die Kirche zu kommen. Werd‘ wieder mal Abrechnung halten müssen mit ihm.“

Frau Thatcher schüttelte schwach den Kopf und wurde noch blasser.

„Bei uns ist er nicht gewesen,“ sagte unsicher Frau Harper.

In Tante Pollys Gesicht zeigte sich merkliche Unruhe. „Joe Harper, hast du meinen Tom diesen Morgen schon gesehen?“

„Nein, Ma‘m.“

„Wann hast du ihn zuletzt gesehen?“

Joe versuchte sich zu erinnern, konnt‘s aber nicht bestimmt sagen. Die Leute blieben allmählich, neugierig geworden, stehen. Geflüster entstand, lebhafte Erregung verbreitete sich unter ihnen, Kinder wurden ängstlich ausgehorcht, auch die jungen Wächter. Alle sagten sie, sie hätten nicht acht gegeben, ob Tom und Becky bei der Heimfahrt an Bord gewesen seien; es war dunkel gewesen und niemand hatte daran gedacht, sich zu vergewissern, ob auch jemand fehle. Schließlich platzte ein junger Mann damit heraus, sie möchten noch in der Höhle stecken! Frau Thatcher fiel in Ohnmacht, Tante Polly begann zu weinen und die Hände zu ringen.

Die schrecklichen Worte gingen von Mund zu Mund, von Gruppe zu Gruppe, von Straße zu Straße, und in nicht ganz fünf Minuten hallten die Glocken wild, und die ganze Ortschaft war in Aufregung. Die Geschichte von Cardiff Hill wurde zur gleichgültigen Episode, die Einbrecher waren vergessen, Pferde wurden gesattelt, Boote bemannt, das Dampfboot instandgesetzt, und ehe der allgemeine Schreck eine halbe Stunde alt geworden, waren zweihundert Mann unterwegs, über den Fluß und auf dem Wege zur Höhle.

Den ganzen langen Nachmittag schien das Dorf tot und verlassen. Eine Menge Frauen besuchten Tante Polly und Frau Thatcher, und versuchten, sie zu trösten. Oder sie weinten mit ihnen — und das war noch besser als alle Worte.

Während der ganzen schrecklichen Nacht warteten die Frauen auf Nachricht; aber als schließlich der Morgen graute, bekam man nichts zu hören als: „Schickt mehr Kerzen und Lebensmittel“ Frau Thatcher war völlig verzweifelt, Tante Polly nicht weniger. Richter Thatcher schickte hoffnungsvolle Botschaften aus der Höhle, aber sie brachten keine rechte Erleichterung.

Gegen Morgen kam der alte Walliser, mit Lehm und Wachs beschmiert, nach Hause, zu Tode erschöpft. Er fand Huck noch im Bett, das für ihn hergerichtet worden war, und im Fieber irreredend. Die Ärzte waren alle in der Höhle, so kam die Witwe Douglas, um sich nach dem Patienten umzusehen. Sie sagte, sie wolle ihr Bestes für ihn tun, denn, ob er nun gut, schlecht oder keins von beiden sei, er sei Gottes Geschöpf, und nichts, was von Gott sei, dürfe man mißachten. Der Walliser meinte, Huck habe wohl gute Seiten, worauf die Witwe entgegnete: „Sie können sich darauf verlassen. Er trägt des Herren Mal an sich. Er wird ihn nie verlassen. Er tut‘s nie. Er vergißt keine Kreatur, die von ihm stammt.“

Früh am Vormittag kamen einzelne Trupps von Männern ins Dorf zurück, die meisten aber suchten noch immer weiter. Alles, was zu berichten war, war, daß man so weit wie noch nie jemand in die Höhle vorgedrungen sei; daß jeder Winkel, jede Spalte aufs sorgfältigste abgesucht worden sei. Wo man auch gehe in den Irrgängen, überall könne man Lichter nah und fern hin und her huschen sehen; Rufe und Pistolenschüsse hätten ihren Schall bis in die tiefsten Gänge hinuntergesandt. An einer Stelle, fern von dem gewöhnlich besuchten Teil, hatte man die Namen „Becky“ und „Tom“ mit Ruß an einem Felsen geschrieben gefunden, und nahe dabei ein beschmutztes Band. Frau Thatcher erkannte das Band und brach in Tränen aus. Sie klagte, es sei das letzte Andenken, das sie von ihrem Kinde haben solle, und daß keine andere Erinnerung jemals so kostbar sein könne; denn dieses Band war das letzte, was sie von dem kleinen Körper bekam, bevor ihn der schreckliche Tod zerstörte. Einige behaupteten, man könne in der Höhle zuweilen fernen Lichtschein sehen, und dann machte sich jedesmal ein ganzer Trupp unter lauten Freudenrufen dorthin auf — und dann folgte jedesmal die traurigste Enttäuschung. Es ging nicht von den Kindern aus, es war nur das Licht eines Suchenden.

Drei schreckliche Tage und Nächte schleppten ihre unendlichen Stunden dahin, und das Dorf versank in stumme Hoffnungslosigkeit. Für nichts anderes hatten die Leute Sinn. Die eben gemachte überraschende Entdeckung, daß der Besitzer des Temperenzler-Wirtshauses Spirituosen im Besitz habe, erregte kaum schwaches Aufsehen, so unerhört sie auch war.

In einem lichten Moment begann Huck mit schwacher Stimme von Wirtshäusern im allgemeinen zu sprechen und fragte schließlich, von vornherein das Schlimmste fürchtend, ob, seit er krank sei, etwas in dem Temperenzler-Wirtshaus entdeckt worden sei.

Die Witwe bejahte. Huck fuhr im Bett in die Höhe, die Augen rollend: „Was — was ist‘s?“

„Spirituosen! Und ‘s ist daraufhin zugesperrt worden. Lieg‘ still, Kind — wie hast du mich erschreckt!“

„Nur noch das sagen Sie mir — nur das noch — bitte: — War‘s Tom Sawyer, der‘s entdeckt hat?“

Die Witwe brach in Tränen aus: „Still, still, Kind! habs dir doch gesagt, du sollst nicht sprechen. Du bist sehr, sehr krank!“

Also war nichts als Schnaps gefunden; wär‘s das Geld gewesen, hätt‘s doch sicher mächtiges Aufsehen erregt. So war also der Schatz für immer verloren — für immer! — Aber warum weinte sie denn? Sonderbar, daß die Frau da weinte.

Solche trüben Gedanken gingen Huck durch den Kopf, und infolge der dadurch erzeugten Erschöpfung schlief er ein. Die Witwe dachte bei sich: „So da — jetzt schläft er wieder — armer Kerl! Tom Sawyer es finden! Erbarm‘ dich — wenn doch jemand den Tom Sawyer finden wollte! Viele gibt‘s sicher nicht, die noch Hoffnung oder auch nur Kraft genug haben, auf die Suche zu gehen!“

Zweiunddreißigstes Kapitel.

Kehren wir jetzt wieder zu Toms und Beckys Anteil am Picknick zurück. Mit der übrigen Gesellschaft trieben sie sich durch die finsteren Gänge, die bekannten Wunder der Höhle betrachtend — mit hochtrabenden Bezeichnungen wie „Gesellschaftszimmer“, „Kathedrale“, „Aladins Palast“ usw. ausgestattete Wunder. Als dann das lustige Fangen und Verstecken begann, beteiligten sich Tom und Becky eifrig daran, bis auch das allmählich langweilig wurde. Darauf spazierten sie eine gewundene Felsgasse hinunter, indem sie mit hochgehaltenen Kerzen die halb von Spinnweben verdeckten Namen, Daten, Postorte und Mottos lasen, mit denen die Wände verziert waren.

Als sie so allein und plaudernd weitertrieben, merkten sie schließlich, daß sie sich bereits in einem Teil der Höhle befanden, der keine solchen Inschriften aufwies. Sie kritzelten ihre eigenen Namen mit Kerzenrauch unter einen Felsvorsprung und gingen weiter. Plötzlich kamen sie an eine Stelle, wo eine Quelle, über Geröll herunterrieselnd und Kalkstückchen mit sich treibend, durch endlose Jahrhunderte einen kleinen Niagara über in ewige Finsternis gehüllte unveränderbare Felsen bildete. Tom zwängte seinen kleinen Körper darunter, um den Wasserfall zu illuminieren. Er fand, daß er eine Art natürliche steinerne Treppe in die Tiefe verbarg, welche zwischen schmalen Wänden eingeklemmt war. Die Begierde, den Entdecker zu spielen, ergriff ihn sofort. Becky stimmte ihm bei, und sie machten zur Sicherheit wieder ein Rauchzeichen und machten sich auf die Suche. Sie verfolgten diesen Weg, brachten tief in den tiefsten Abgründen der Höhle noch mehrere solche Zeichen an und trieben sich dann kreuz und quer herum, um Dinge zu entdecken, mit denen sie die Oberwelt verblüffen könnten. Irgendwo fanden sie eine große Höhle, von deren Wölbung eine große Menge schimmernder Tropfsteine, von der Länge und dem Umfange eines Mannes herunterhingen. Staunend und sich verwundernd gingen sie hindurch und plötzlich mündete die Höhle in einen engen Gang, und dieser brachte sie zu einem bezaubernd schönen Springbrunnen, dessen Becken mit einer Eisschicht glänzenden Kristalls bedeckt war. Er befand sich in der Mitte eines hallenartigen Raumes, dessen Wände getragen wurden von einer Reihe phantastisch geformter, aus Tropfstein gebildeter Säulen, das Resultat durch Jahrtausende ruhelos fallender Wassertropfen. Unter der Wölbung hatten sich riesige Ballen von Fledermäusen gebildet, viele tausend aneinander hängend; die Lichter schreckten die Tiere auf, und sie kamen hundertweise herunter, quiekend und wahnsinnig auf die Flammen der Kerzen losstürzend. Tom kannte ihre Art und die Gefahr, die hier entstand. Er griff Becky bei der Hand und zog sie in den ersten sich auftuenden Gang; und nicht zu früh, denn eine Fledermaus löschte mit ihrem Flügel Beckys Licht aus, während sie aus der Höhle rannten. Die Tiere verfolgten die Kinder noch eine gute Strecke, aber die Flüchtlinge stürzten sich in jeden neuen Gang und entgingen so schließlich der gefährlichen Situation. Tom entdeckte einen unterirdischen See, dessen düsteres Wasser weit entfernt sich im Schatten des Unbekannten verlor. Tom wollte seine Ufer umwandern, meinte aber, es möchte besser sein, sich vorher zu setzen und eine Weile zu ruhen. Jetzt, zum erstenmal legte sich die tiefe Stille der Umgebung gleich einer feuchten Hand auf die Gemüter der Kinder.

Becky sagte: „Weißt du, drauf geachtet hab‘ ich ja nicht, aber es scheint mir so lange her, seit ich die andern gehört hab‘.“

„Na, Becky, denk‘ doch nur, wir sind doch tief unter ihnen, und ich weiß nicht, wie weit nördlich oder südlich oder westlich oder was sonst. Können sie hier unmöglich hören.“

Becky wurde ängstlich. „Möcht‘ doch wissen, wie lang‘ wir schon hier unten sind, Tom. Laß uns lieber umkehren.“

„Ja, denk auch, ‘s ist besser. Vielleicht ist‘s besser.“

„Kannst du den Weg finden, Tom? Für mich ist‘s ein reiner Irrgarten.“

„Denk wohl, ich könnt ‘n finden. Aber dann die Fledermäuse, wenn die uns die Kerzen ausmachen, ist‘s ‘ne schreckliche Sache. Laß uns ‘nen anderen Weg versuchen, wo wir nicht durch müssen.“

„Ja, aber ich hoff‘, wir werden uns nicht verlaufen. ‘s wär doch zu gräßlich.“

Und das Kind schüttelte sich schaudernd beim bloßen Gedanken an die furchtbare Möglichkeit.

Sie verfolgten einen Gang lange Zeit schweigend, nach jeder neuen Öffnung schauend, ob sich dort nicht eins ihrer Merkmale sehen lasse; aber nichts war zu sehen. So oft Tom seine Untersuchung anstellte, durchforschte Becky sein Gesicht nach einem ermutigenden Zeichen, und er sagte zuversichtlich: „O, ‘s ist schon recht! Der da ist‘s noch nicht, aber wir werden schon zum rechten kommen!“ Aber bei jedem mißlungenen Nachforschen fühlte er weniger und weniger Zuversicht, und schließlich begann er auf gut Glück in jeden sich öffnenden Gang einzulenken, in der verzweifelten Hoffnung, zu finden, was so bitter not tat. Er sagte immer noch: „‘s wäre recht,“ aber auf seinem Herzen lastete solch lähmende Angst, daß die Worte ihren Klang verloren hatten und klangen, als habe er gesagt: „Alles ist verloren.“ Becky, halbtot vor Furcht, schmiegte sich an ihn und versuchte, krampfhaft die Tränen zurückzuhalten, aber sie kamen doch. Schließlich sagte sie: „O, Tom, was tun die Fledermäuse. Laß uns denselben Weg zurückgehen! Wir kommen ja weiter und immer weiter ab.“

Tom blieb stehen „Horch,“ sagte er.

Tiefe Stille; so tiefe Stille, daß sogar ihr Atem hörbar wurde. Tom schrie. Der Schall dröhnte durch die hohlen Gänge und erzeugte hundertfaches Echo, um in der Ferne in einem schwachen Ton zu ersterben, der wie höhnisches Lachen klang.

„O, tu‘s nicht wieder, Tom! ‘s ist zu gräßlich,“ flehte Becky.

„‘s ist gräßlich, aber ‘s muß sein, Becky. Sie könnten uns doch hören, weißt du.“

Und er schrie abermals. Dieses „könnte“ war ebenso schrecklich wie das höhnische Lachen, es sprach so völlige Hoffnungslosigkeit daraus. Die Kinder verharrten in Schweigen und lauschten. Aber nichts war zu hören. Plötzlich wandte Tom sich auf demselben Weg zurück und beeilte seine Schritte. Es dauerte gar nicht lange, da enthüllte eine gewisse Unsicherheit in seinen Bewegungen Becky eine neue schreckliche Tatsache: er konnte den Weg nicht wiederfinden!

„Ach, Tom, du hast keine Zeichen mehr gemacht!“

„Becky, was war ich für ‘n Esel! Was für ‘n Esel! Dachte gar nicht dran, daß wir wieder zurück müßten. Und jetzt kann ich den Weg nicht mehr finden; ‘s geht ja so durch‘nander!“

„Tom, Tom, wir sind verloren! wir sind verloren! Nie, nie wieder kommen wir aus dieser gräßlichen Höhle heraus! Ach, warum sind wir nicht bei den anderen geblieben!“

Sie sank nieder und brach in so herzzerreißendes Weinen aus, daß Tom von dem Gedanken gepackt wurde, sie möchte sterben oder den Verstand verlieren. Er setzte sich zu ihr und legte seinen Arm um sie, sie verbarg ihr Gesicht an seiner Brust, sie weinte sich aus, klagte sich an, zerfloß in nutzloser Reue; und das ferne Echo gab alles als höhnisches Gelächter zurück. Tom bat sie, wieder Mut zu fassen, und sie sagte, sie könne es nicht. Er begann, sich selbst bitter anzuklagen, da er sie in diese fürchterliche Lage gebracht habe. Dies wirkte. Sie sagte, sie wolle wieder Hoffnung zu fassen versuchen, sie wolle sich aufraffen und ihm folgen, wohin er sie auch führen würde, wenn er nur so etwas nicht wieder reden wolle; denn er sei nicht schlimmer als sie selbst.

So setzten sie sich also wieder in Bewegung — ziellos, lediglich dem Zufall sich überlassend. Alles, was sie tun konnten, war ja, vorwärts zu gehen. Während kurzer Zeit belebte sie schwache Hoffnung, nicht auf Grund irgendwelcher Überlegung, sondern lediglich, weil es in der Natur liegt, zuversichtlich zu sein, so lange Alter und die Gewohnheit des Mißlingens ihr noch nicht die Schwingen gebrochen haben. Plötzlich nahm Tom Beckys Kerze und blies sie aus. Diese Sparsamkeit sprach schrecklich deutlich. Worte waren nicht nötig. Becky verstand, und ihre Hoffnung starb wieder. Sie wußte, Tom hatte eine ganze Kerze und drei oder vier Stückchen in der Tasche — und doch mußte er sparen!

Dann begann sich Müdigkeit geltend zu machen. Die Kinder versuchten, ihr nicht nachzugeben, denn der Gedanke, sich zu setzen und dadurch eine Menge kostbarer Zeit zu verlieren, stachelte sie wieder auf; sich bald in dieser, bald in jener Richtung fortzubewegen, war doch immerhin Fortschritt und konnte irgend welchen Erfolg haben; aber sich setzen, hieß den Tod herbeirufen und beschleunigen.

Schließlich versagten Beckys zarte Glieder den Dienst, sie setzte sich. Tom blieb bei ihr, und sie sprachen von zu Hause, ihren Freunden, ihren bequemen Betten, und vor allem — dem Tageslicht! Becky weinte, und Tom zermarterte sich das Hirn, um etwas zu ihrer Aufheiterung zu finden, aber all seine ermunternden Worte waren längst verbrauchte Argumente und klangen wie Hohn. Schließlich drückte die Erschöpfung so schwer auf Becky, daß sie in Schlaf verfiel. Tom war glücklich. Er saß da, starrte in ihr bekümmertes Gesichtchen und sah es sich immer mehr aufhellen unter dem Einfluß angenehmer Träume; schließlich breitete sich ein Lächeln darüber aus. Auch auf ihn schien aus diesen friedvollen Gesichtszügen etwas wie Frieden und Vergessenheit überzugehen, seine Gedanken verloren sich in vergangenen Tagen und zauberten schöne Erinnerungen hervor. Während er tief darin versunken war, wachte Becky mit einem reizenden, kleinen Lachen auf — aber es erstarb ihr auf den Lippen, und ein Stöhnen folgte ihm.

„O, wie konnte ich schlafen! Ich wollt‘, ich wär‘ nie, nie wieder aufgewacht! Nein, nein, Tom, ‘s ist ja nicht wahr, Tom! Schau nicht so! Ich will‘s ja nicht wiedersagen!“

„Becky, ich war so froh, daß du schliefst; jetzt bist du wieder stark, und wir werden den Weg heraus schon finden!“

„Wollen‘s versuchen, Tom! Aber ich hab‘ im Traum so ‘n schönes Land gesehen. Ich glaub‘ dahin gehen wir beide jetzt.“

„Nein, nein! Sei lieb, Becky, und laß uns gehen und ‘s versuchen.“

Sie standen auf und gingen weiter, Hand in Hand und hoffnungslos. Sie versuchten, sich vorzustellen, wie lange sie schon in der Höhle seien, aber alles, was sie wußten, war, daß es Tage und Wochen schienen, und doch war‘s nicht möglich, da ihre Kerzen ja immer noch brannten.

Eine lange Zeit war vergangen — sie hätten nicht sagen können, eine wie lange — als Tom vorschlug, leise zu gehen und zu horchen, ob sie nicht irgendwo Wasser tropfen hörten, sie müßten eine Quelle finden. Bald fanden sie wirklich eine, und Tom meinte, es sei wieder an der Zeit, auszuruhen. Beide waren schrecklich müde, doch Becky erklärte, noch weiter gehen zu können. Sie wunderte sich, daß Tom widersprach. Sie verstand das nicht. Sie setzten sich und Tom befestigte seine Kerze an der Wand vor ihnen. Wieder wurde ihnen schwer zumute. Lange herrschte tiefes Schweigen. Da wimmerte Becky: „Tom, ich bin so hungrig!“

Tom zog etwas aus der Tasche. „Kennst du das?“ fragte er.

Becky lächelte beinahe. „‘s ist unser Hochzeitskuchen, Tom!“

„Ja — wollt‘, ‘s wär‘ so groß wie ‘n Balken, denn ‘s ist alles, was wir haben.“

„Ich hab‘s vom Picknick aufbewahrt, Tom, um davon zu träumen, wie ‘s die erwachsenen Leute mit dem Hochzeitskuchen machen — aber nun wird‘s unser —“

Sie ließ den Satz unvollendet. Tom teilte den Kuchen und Becky aß mit Appetit, während er nur daran herumknapperte. Es gab eine Menge kaltes Wasser — zum Beschluß der Mahlzeit. Bald schlug Becky vor, weiter zu gehen. Tom schwieg einen Augenblick, dann sagte er:

„Becky, kannst du‘s ertragen, wenn ich dir was sage —?“

Becky wurde totenblaß, aber sie sagte, sie dächte.

„Na also, Becky, wir müssen hier bleiben, wo‘s Trinkwasser gibt. Dies kleine Stückchen da ist unser letztes Licht!“

Nun brach Becky doch in Tränen aus und wimmerte leise. Tom tat, was er konnte, sie zu beruhigen, aber mit schwachem Erfolg. Schließlich hauchte Becky: „Tom!“

„Na, Becky?“

„Sie müssen uns doch vermissen und nach uns suchen!“

„Gewiß, müssen sie! Selbstverständlich müssen sie!“

„Suchen sie uns wohl jetzt schon, Tom?“

„Na, ich denk‘ doch, sie tun‘s! — Hoff‘ wenigstens, sie tun‘s.“

„Wann mögen Sie uns vermißt haben, Tom?“

„Denk‘ doch — wie sie zum Dampfboot zurückgingen.“

„Tom, ‘s mußte doch dunkel sein — konnten sie‘s merken, daß wir nicht kamen?“

„Glaub‘ kaum. Aber dann mußte deine Mutter es merken, wie die andern nach Haus kamen.“

Ein erschreckter Blick aus Beckys Augen brachte Tom zur Besinnung, und ihm fiel ein, daß er sich da einem traurigen Irrtum hingegeben hatte. Becky sollte zur Nacht ja gar nicht heimkommen! Die Kinder wurden still und nachdenklich. Dann belehrte ein neuer Anfall von Verzweiflung bei Becky Tom, daß sie denselben Gedanken hatte wie er — daß der Sonntagmorgen zur Hälfte vergehen konnte, bevor Frau Thatcher erfuhr, daß Becky nicht bei Harpers gewesen sei. Die Kinder hefteten die Augen auf das Kerzenrestchen und beobachteten, wie es erbarmungslos kleiner und immer kleiner wurde; sahen, wie schließlich nur noch ein halber Zoll Docht übrig war; sahen die Flamme flackern, auf und nieder, eine kleine Rauchsäule von dem Docht aufsteigen, und dann — dann herrschte der Schrecken vollkommener Finsternis.

Wie lange danach Becky allmählich zu dem Bewußtsein gelangte, daß sie weinend in Toms Armen lag, wußten beide nicht. Alles, was sie wußten, war, daß nach anscheinend sehr langer Zeit beide aus totenähnlichem Schlaf erwachten und sich ihres Elends wieder bewußt wurden. Tom meinte, es könne Sonntag sein, vielleicht auch Montag. Er versuchte, Becky zum Sprechen zu bringen, aber ihr Kummer war zu niederdrückend, sie hatte alle Hoffnung verloren. Tom tröstete sie mit der Bemerkung, sie müßten schon lange vermißt sein, und es sei kein Zweifel, daß die Suche schon begonnen habe. Er wollte schreien, vielleicht würde doch jemand kommen. Er versuchte es — aber in der Dunkelheit tönte das ferne Echo so gräßlich, daß er‘s nicht zum zweitenmal tun mochte.

Die Stunden flossen dahin, wieder stellte sich quälender Hunger ein. Ein Stück von Toms Kuchenhälfte war noch da; sie teilten und aßen sie. Aber sie schienen nur hungriger zu werden. Die armseligen Krümel erweckten nur das Verlangen nach mehr.

Plötzlich sagte Tom: „Pscht! Hörst du nichts?“

Beide hielten den Atem an und horchten. Es wurde etwas wie ein ganz entfernter Ruf hörbar. Sofort antwortete Tom, und, Becky an der Hand führend, lief er in der entsprechenden Richtung den Gang entlang. Dann horchte er wieder; wieder war der Ton hörbar, und, wie es schien, noch näher.

„Sie sind‘s!“ jubelte Tom. „Sie kommen! Komm mit! Becky — jetzt ist alles gut!“

Die Freude der Gefangenen war nahezu überwältigend. Das Vorwärtskommen war indessen schwer, weil es hier zahlreiche Spalten gab, man mußte daher äußerst vorsichtig sein. Bald kamen sie an eine und mußten halten. Sie konnte drei Fuß tief sein, aber auch hundert — es war kein Hinüberkommen. Tom legte sich platt nieder und reichte so tief es ihm möglich war. Kein Boden. Sie mußten bleiben und warten, bis die Retter kommen würden. Sie horchten; augenscheinlich klangen die Rufe immer entfernter. Ein bis zwei Minuten, dann waren sie ganz verklungen! Herzbrechende Verzweiflung! Tom brüllte, bis er heiser war, aber vergebens. Er sprach Becky hoffnungsvoll zu, aber eine Ewigkeit angstvollen Wartens verging, kein Ruf ertönte.

Die Kinder tasteten zur Quelle zurück. Endlos schleppte sich die Zeit hin. Sie schliefen wieder und erwachten hungrig und trostlos. Tom glaubte, es müsse jetzt schon Dienstag sein.

Jetzt kam ihm ein neuer Gedanke. Es gab dicht dabei ein paar Seitengänge. Es würde besser sein, einige von ihnen zu untersuchen, als die Last der Verzweiflung in Untätigkeit zu tragen. Er nahm eine Drachenleine aus der Tasche, befestigte sie an einer Felskante und er und Becky gingen, Tom voran, indem sich die Leine allmählich abwickelte, vorwärts. Nach zwanzig Schritt endete der Gang in einen abfallenden Platz. Tom warf sich auf die Knie, tastete herum und suchte mit der Hand um die Ecke des Felsens herumzukommen; er machte eine heftige Anstrengung, möglichst weit zu reichen, und sah, nicht zwanzig Meter entfernt, eine menschliche Hand, ein Licht haltend, um eine Ecke erscheinen! Tom stieß ein Triumphgeschrei aus, und plötzlich folgte der Hand der dazu gehörige Körper — der des Indianer-Joe! Tom erstarrte; er konnte kein Glied rühren. Dabei war er höchst überrascht, den „Spanier“ sich Hals über Kopf davonmachen zu sehen. Er wunderte sich, daß Joe seine Stimme nicht erkannt und ihm nicht für seine Aussage vor Gericht den Hals abgeschnitten habe. Das Echo mußte also wohl seine Stimme unkenntlich gemacht haben. Zweifellos war es so, dachte er. Der Schreck hatte jeden Muskel in ihm erschlafft. Er beschloß, wenn er noch Kraft genug habe, zur Quelle zurückzukehren, dort bleiben zu wollen, und nichts solle ihn wieder veranlassen können, sich der Gefahr eines Zusammentreffens mit dem Indianer-Joe auszusetzen. Er war besorgt, Becky von dem, was er gesehen habe, nichts merken zu lassen. Er sagte, er habe nur auf gut Glück nochmals gerufen.

Aber Hunger und Trostlosigkeit wurden immer schlimmer. Nochmals eine Zeit tödlichen Einerleis an der Quelle und nochmals ein langer Schlaf brachten ihn zu einem anderen Entschluß. Sie erwachten, von rasendem Hunger gequält. Tom glaubte, es müsse Mittwoch oder Donnerstag, vielleicht gar Freitag oder Samstag sein, und daß die Suche längst aufgegeben sei. Er schlug vor, einen anderen Gang zu untersuchen. Er war jetzt bereit, es mit Joe und allen Schrecken aufzunehmen. Aber Becky war sehr schwach. Sie war in tiefe Empfindungslosigkeit versunken und wollte nicht gestört sein. Sie erklärte, wo sie jetzt sei, warten zu wollen — und zu sterben; es werde ja nicht mehr lange dauern. Tom solle nur mit der Drachenleine weiter suchen; aber sie beschwor ihn, zuweilen wiederzukommen und mit ihr zu sprechen; und wenn die schreckliche Stunde gekommen sei, solle er bei ihr sein und ihre Hand halten — bis alles vorüber sein würde. Tom küßte sie mit erstickendem Gefühl in der Kehle und zeigte dabei nach Kräften Zuversicht, die Suchenden zu finden oder aber einen Ausweg aus der Höhle. Dann nahm er die Drachenleine und machte sich, auf Händen und Füßen kriechend, davon, von Hunger gequält und elend vor trüben Ahnungen des Kommenden.

Dreiunddreißigstes Kapitel.

Dienstag-Nachmittag kam und wurde von der Dämmerung abgelöst. Das Dorf St. Petersburg lag wie im Totenschlaf. Die verlorenen Kinder waren nicht gefunden worden. Öffentliche Gebete waren für sie abgehalten worden; wieviel ungehörte Gebete mochten außerdem zum Himmel gestiegen sein! Aber noch immer kam keine hoffnungsvollere Nachricht aus der Höhle. Die meisten Suchenden hatten ihre Bemühungen aufgegeben und waren zu ihren täglichen Beschäftigungen zurückgekehrt, da nach ihrer Meinung die Kinder endgültig aufgegeben werden müßten. Frau Thatcher war sehr krank und lag meistens im Delirium. Man sagte, es sei herzbrechend, ihr Rufen nach ihrem Kinde zu hören, sie den Kopf heben und minutenlang horchen und sie dann unter Stöhnen sich mutlos wieder in die Kissen werfen zu sehen. Tante Polly war in vollkommene Schwermut versunken, ihr graues Haar war fast weiß geworden. Traurig und mutlos beschloß das Dorf den Dienstag-Abend.

Ungefähr um Mitternacht ertönte wildes Glockengeläut, im Augenblick waren die Straßen erfüllt von halbbekleideten, verschlafenen Menschen, die schrien: „Heraus, heraus — sie sind gefunden! Sie sind gefunden!“ Blechpfannen und Hörner vermehrten noch den Spektakel, das Volk bildete große Trupps, die dem Fluß zuliefen, um die Kinder in Empfang zu nehmen, welche in offenem Wagen, umgeben von schreienden Bürgern, herangezogen kamen; Hurra über Hurra brüllend, wälzte sich der Zug durch die Straßen.

Das Dorf wurde illuminiert, niemand ging wieder zu Bett, es war die größte Nacht, die das kleine Nest je erlebt hatte. Während der ersten halben Stunde zog eine wahre Prozession von Bürgern nach Richter Thatchers Haus, riß die Geretteten an sich, um sie zu küssen, drückte Frau Thatchers Hand, suchte vergebens nach Worten, und strömte wieder hinaus, alles mit Tränen überschwemmend.

Tante Pollys Seligkeit war vollkommen und Frau Thatchers beinahe. Vollkommen konnte sie erst sein, wenn ein Bote mit der Glücksnachricht bei ihrem noch immer in der Höhle herumirrenden Mann angelangt sein würde.

Tom lag auf dem Sofa, von begierigen Zuhörern umgeben und erzählte die Geschichte seiner großartigen Abenteuer, hie und da kleine Ausschmückungen anbringend; er schloß mit der Beschreibung, wie er Becky verließ, um einen neuen Streifzug zu machen; wie er zwei Gänge, so weit seine Leine reichte, verfolgte; wie er auch eine dritte untersuchte und eben im Begriff war, umzukehren, als er in weiter Ferne einen schwachen Lichtschimmer entdeckte, der wie Tageslicht erschien; wie er die Leine fortwarf und darauf zukroch, Kopf und Schultern durch eine enge Öffnung preßte und die Ufer des Mississippi vor sich sah. Und wäre es zufällig Nacht gewesen, hätte er den Lichtschimmer nicht gesehen und wäre umgekehrt, ohne den Gang weiter zu untersuchen! Er erzählte, wie er zu Becky zurückkehrte, ihr die Nachricht brachte, und sie ihn bat, sie nicht durch solchen Unsinn aufzuregen, denn sie sei müde, im Begriff zu sterben und wolle sterben; welche Mühe er sich gab, sie zu überzeugen, und wie es ihm endlich gelang, und wie sie dann fast starb vor Freude, als sie hingekrochen und den Tagesschein selbst gesehen habe; wie er zuerst durch das Loch gekrochen sei und dann auch ihr hindurchgeholfen habe; wie sie dasaßen und vor Entzücken weinten; wie ein paar Leute in einem Boot vorbeikamen, er sie anrief und ihnen ihre Lage und ihren verhungerten Zustand schilderte; wie die Leute die ganze Erzählung erst nicht glaubten, „denn,“ sagten sie, „ihr seid fünf Meilen stromabwärts vom Eingang der Höhle,“ sie dann zu sich nahmen, sie in ihr Haus brachten, sie essen und dann bis zwei oder drei Stunden nach Dunkelwerden ruhen ließen und sie dann schließlich hierher geleiteten.

Drei Tage und Nächte Aufregung und Hunger in der Höhle ließen sich nicht auf einmal abschütteln, wie Tom und Becky bald bemerkten. Mittwoch und Donnerstag mußten sie das Bett hüten und schienen dabei immer schwächer und schwächer zu werden. Donnerstag konnte Tom ein bißchen herumkriechen; am Freitag war er wieder auf den Beinen und am Samstag fast wie sonst. Becky aber konnte ihr Zimmer erst am Sonntag verlassen, und dann sah sie noch aus, als habe sie eben eine schwere Krankheit durchgemacht.

Tom hörte von Hucks Krankheit und ging am Freitag hin, um ihn zu sehen, wurde aber nicht zugelassen; ebensowenig Samstags und Sonntags. Danach durfte er täglich den Kranken besuchen, doch war ihm verboten, von seinen Abenteuern zu erzählen, um keine Aufregung bei dem Freund hervorzurufen. Die Witwe Douglas saß dabei und paßte auf, daß er gehorchte. Zu Hause erfuhr Tom das Cardiff Hill-Abenteuer; auch daß der Körper des einen Strolches, des „Fremden“, im Fluß nahe der Landungsstelle des Dampfbootes gefunden worden sei. Wahrscheinlich war er auf der Flucht angeschossen worden.

Ungefähr vierzehn Tage nach seiner Wiederherstellung ging Tom zu Huck, der inzwischen wieder so weit bei Kräften war, um aufregende Neuigkeiten vertragen zu können; und Tom wußte einige, die, dachte er, ihn wohl interessieren könnten. Richter Thatchers Haus lag an Toms Weg, und er ging hinein, nach Becky zu sehen. Der Richter und ein paar Freunde zogen Tom ins Gespräch, und jemand fragte ihn ironisch, ob er wohl Lust habe, nochmals in die Höhle zu gehen. Tom sagte, ja, er glaube wohl, daß er möchte.

Der Richter lachte: „‘s gibt wohl noch mehrere außer dir, Tom, daran zweifle ich nicht im geringsten. Aber dafür ist gesorgt. Niemand soll nochmals in der Höhle verloren gehen.“

„Wieso?“

„Weil ich schon vor zwei Wochen die Eichentür mit eisernen Bändern und ‘nem dreifachen Schloß habe versichern lassen; und die Schlüssel habe ich selbst in Verwahrung.“

Tom wurde weiß wie die Wand.

„Was ist‘s mit dem Jungen? Ho — lauf mal jemand nach ‘nem Glas Wasser!“

Das Wasser wurde gebracht und Tom ins Gesicht gespritzt.

„Aha — ‘s hilft schon! Na, was war denn Tom?“

„Gott, Herr Richter — in der Höhle drinnen war der Indianer-Joe!“

Vierunddreißigstes Kapitel.

Wenige Minuten genügten, um die Neuigkeit bekannt zu machen, und ein Dutzend Bootsladungen Männer war unterwegs nach der Douglas-Höhle, denen bald das vollgestopfte Dampfboot folgte. Tom Sawyer befand sich im gleichen Boot mit dem Richter Thatcher. Als die Tür zur Höhle geöffnet wurde, bot sich in der ungewissen Dämmerung des Ortes ein trauriger Anblick. Der Indianer-Joe lag auf der Erde ausgestreckt, tot, das Gesicht fest an eine Lücke in der Tür gepresst, als wenn seine Augen bis zum letzten Augenblick an den Anblick der hellen, freien Welt dort draußen geheftet gewesen wären. Tom fühlte sich gerührt, denn aus eigener Erfahrung wußte er, was der Schuft gelitten haben mußte. Sein Mitleid war erregt, aber trotzdem empfand er ein überwältigendes Gefühl der Freiheit und Sicherheit, das ihm deutlich zeigte, was er bisher nur dunkel in sich getragen hatte; wie groß seine Furcht vor einem gewaltsamen Tode bei ihm gewesen sei, seit er vor Gericht gegen den Blutmenschen Zeugnis abgelegt hatte.

Joes Messer lag dicht bei ihm, die Klinge war abgebrochen; mit grenzenloser Ausdauer hatte er den eichenen, starken Grundbalken der Tür durchschnitten. Freilich war es vergebliche Ausdauer gewesen, denn der Felsen bildete eine natürliche Schwelle, und an der Härte dieses Hindernisses mußte sein Messer machtlos abgleiten; eine Wirkung zeigte sich auch nur an diesem selbst. Aber auch ohne diesen Steinwall würde alle Mühe umsonst gewesen sein, denn hätte der Indianer auch den Balken ganz entfernen können, so konnte er sich doch unmöglich durch diesen engen Spalt durchzwängen — und er wußte das. So hatte er denn die Arbeit nur verrichtet um etwas zu tun, um die fürchterliche Zeit totzuschlagen, um seinen Geist abzulenken. Gewöhnlich konnte man ein halbes Dutzend Kerzenreste in den Nischen des Eingangs finden, die von Besuchern dort zurückgelassen waren. Jetzt war nicht eine einzige da. Der Gefangene hatte sie zusammengesucht und sie gegessen. Auch hatte er ein paar Fledermäuse gefangen und sie verzehrt, nichts als die Flügel übrig lassend. Der arme, unglückliche Mensch war Hungers gestorben. In der Nähe hatte sich durch undenkliche Zeiten ein Tropfsteingebilde vom Boden herausgebildet — infolge beständigen Wassertropfens von der Decke. Er hatte die Spitze dieser Säule abgebrochen und einen etwas ausgehöhlten Stein darauf gelegt, worin er die von zwanzig zu zwanzig Minuten regelmäßig wie durch ein Uhrwerk herunterfallenden Tropfen auffing — einen Teelöffel voll in vierundzwanzig Stunden! Dieser Tropfen fiel schon, als die Pyramiden neu waren, als Troja sank, als Rom gegründet wurde, bei der Kreuzigung Christi, als der Eroberer nach England kam, als Columbus aussegelte, als das Blutbad von Lexington „neu“ war. Er fällt noch; er wird noch fallen, wenn all die jetzigen Dinge durch Vergangenheit Geschichte geworden, durch die Dämmerung der Sage in die Nacht der Vergessenheit versunken sein werden. Hat alles einen Zweck und eine Bestimmung? Mußte dieser Tropfen durch fünftausend Jahre fallen, weil er einmal für dieses menschliche Insekt nötig werden sollte, und hat er vielleicht in zehntausend Jahren noch einmal einen Zweck zu erfüllen? Aber genug. Es sind viele, viele Jahre vergangen, seitdem dieser hilflose Indianer den Stein aushöhlte, um ein paar unschätzbare Wassertropfen aufzufangen; aber bis zum heutigen Tage betrachtet jeder Reisende, der die Wunder der Douglas-Höhle kennen zu lernen kommt, am längsten von allem diesen merkwürdigen Stein und den langsam fallenden Tropfen. „Der Becher des Indianer-Joe“ steht unter den Sehenswürdigkeiten der Höhle an erster Stelle; selbst „Aladins Palast“ kann nicht mit ihm verglichen werden.

Der Indianer wurde nahe der Mündung der Höhle begraben. Das Volk strömte dahin aus dem Dorfe und aus allen Farmen und Niederlassungen sieben Meilen in der Runde zusammen; man schleppte die Kinder und eine Menge Lebensmittel heran und war schließlich von dem Begräbnis so befriedigt, als wäre Joe gehängt worden.

Die Beerdigung machte einer äußerst wichtigen Sache ein Ende — der Petition an den Gouverneur für des Indianer-Joes Begnadigung. Sie trug eine endlose Menge Namen; mehrere gerührte, redselige Versammlungen hatten getagt, ein Komitee weiser Frauen lag dem Gouverneur mit Murren und Klagen in den Ohren und bestürmte ihn, eine mächtige Eselei zu begehen und seine Pflicht mit Füßen zu treten. Der Indianer galt als Mörder von fünf Bürgern des Dorfes — aber was tat das? Wäre er der Teufel selbst gewesen, es hätte sich doch eine Anzahl Schwächlinge gefunden, die ihre Namen unter ein Begnadigungsgesuch gekritzelt und eine Träne aus ihren beständig übervollen Wasserwerken darauf fallen gelassen hätten.

Am Morgen nach dem Begräbnis zog Tom Huck zu einer wichtigen Unterredung an einen geheimen Ort. Huck hatte bereits durch den Walliser und die Witwe Douglas von Toms Abenteuern gehört, aber Tom meinte, es gäbe wohl noch etwas, wovon jene ihm nichts gesagt haben dürften; darüber eben wollten sie jetzt sprechen. Hucks Gesicht verfinsterte sich.

„Weiß schon, was es ist,“ sagte er. „Warst in Nummer Zwei und fandst nichts als Schnaps. ‘s hat mir zwar niemand gesagt, daß du‘s warst, aber ich wußte wohl, daß du‘s sein mußtest, sobald ich von dieser Schnaps-Geschichte hörte; und wußte, du hättst das Geld nicht erwischt, weil du sonst auf irgend ‘ne Weise zu mir gekommen wärst und mir‘s gesagt hättest, auch wenn du sonst gegen alle stumm gewesen wärst. Tom, ich glaub‘ fast, wir kriegen nie was von dem Schatz zu sehen.“

„Was, Huck, kein Wort red‘ ich von dem Schnapswirt. Du weißt doch, den Sonntag, als ich zum Picknick ging, war in seiner Schenke noch alles in Ordnung. Erinnerst du dich nicht, daß du in der Nacht wachen solltest?“

„O, sicher. Zwar, ‘s kommt mir vor, als wär‘s ein Jahr her. ‘s war dieselbe Nacht, wo ich dem Joe zur Witwe nachschlich.“

„Du schlichst ihm nach?“

„Freilich — aber reinen Mund halten! Denk‘ doch, der Joe hat Freunde hinterlassen. Möcht‘ sie doch nicht auf mich hetzen! Wär‘ ich nicht gewesen, säß‘ er jetzt in Sicherheit unten in Texas!“

Dann erzählte Huck Tom sein ganzes Abenteuer im Vertrauen, der bisher nur von des Wallisers Anteil an der Sache wußte.

„Aber,“ unterbrach er sich plötzlich, auf die Hauptfrage zurückkommend, „wer den Schnaps in Nummer Zwei entdeckt hat, hat auch‘s Geld in die Finger bekommen, denk‘ ich — auf jeden Fall ist‘s für uns verloren, Tom.“

„Huck — das Geld war gar nicht in Nummer Zwei.“

„Was!?“ Huck starrte seinen Kameraden verdutzt an. „Tom, hast du wieder ‘ne Spur von dem Geld?“

„Huck — ‘s ist in der Höhle!“

Hucks Augen leuchteten. „Sag‘s noch mal, Tom!“

„Das Geld ist in der Höhle!“

„Tom — Allmächtiger — jetzt — ist das Ernst oder Scherz?“

„Ernst, Huck, so ernst wie alles bei mir. Willst du mitgehn und ‘s rausholen?“

„Denk‘ doch, daß ich will! — Wenn‘s wo liegt, wo wir‘s leicht finden können — ohne den Weg zu verlieren —“

„Huck, wir können‘s ohne die geringste Gefahr von der Welt.“

„Ist mal was! Aber, warum denkst du, daß das Geld —“

„Huck, du mußt warten, bis wir drin sind. Wenn wir‘s nicht finden, geb‘ ich dir meine Trommel — und alles, was ich sonst noch hab‘; verlaß dich drauf!“

„‘s ist gut — ist ‘n Wort. Wann wolln wir?“

„Meinetwegen gleich, wenn du magst. Bist du stark genug?“

„Ist‘s weit in der Höhle? Bin zwar schon drei bis vier Tage wieder auf den Beinen, aber mehr als ‘ne Meile — Tom, ich glaub‘, mehr kann ich nicht.“

„‘s sind ungefähr fünf Meilen auf dem gewöhnlichen Weg, aber den wolln wir nicht gehn, Huck, sondern ‘nen ganz kurzen, den niemand kennt außer mir. Huck, ich werd‘ dich in ‘nem Boot hinfahren. Werd‘ das Boot da anlegen und ‘s wieder zurückrudern, alles ganz allein. Brauchst dich gar nicht drum zu kümmern.“

„Na, Tom, laß uns schnell hin!“

„Schon recht, aber wir brauchen Brot und Fleisch und unsere Pfeifen, und ‘nen kleinen Sack und zwei oder drei Drachenschnüre, und dann noch ‘n paar von den neuartigen Dingern, die sie Zündhölzer nennen. Sag‘ dir, ich hätt‘ welche davon brauchen können, wie ich neulich drin war.“

Kurz nach Mittag liehen sich die Jungen ein kleines Boot von einem Bürger, der gerade abwesend war und machten sich auf den Weg. Als sie ein paar Meilen unterhalb der Höhlenbucht waren, sagte Tom: „Sieh mal hier, dies schroffe Ufer da sieht genau so aus, wie sonst an ‘ner beliebigen Stelle — kein Haus, kein Garten, nichts als Gestrüpp. Aber siehst du die weiße Stelle, wo ein Erdrutsch mal gewesen sein mag? Na, das ist eins von meinen Kennzeichen. Wollen landen.“

Sie landeten. „Jetzt, Huck — wo wir jetzt stehn, kannst du das Loch berühren, aus dem ich neulich herausgekrochen bin. Schau mal, ob du‘s finden kannst.“

Huck suchte überall herum, fand aber nichts. Tom ging stolz auf ein dickes Gewirr von Sumachbüschen zu und sagte: „Hier ist‘s! Schau her, Huck. ‘s ist die verborgenste Höhle in diesem gesegneten Lande. Daß du aber den Mund hältst! Hab‘ ja schon immer Räuber sein wollen, aber ich wußt‘, daß ich erst so ‘n Ding haben müßt‘, wie das da, wohin man sich mal verstecken kann. Jetzt haben wir‘s und müssen‘s geheim halten; höchstens darf‘s der Joe Harper und Ben Rogers wissen, weil‘s doch ‘ne rechte Bande sein muß, oder ‘s hat gar keinen Schick. ‚Tom Sawyers Räuberbande‘, ‘s klingt mächtig großartig, Huck, was?“

„Na, das will ich wohl meinen, Tom! Und wen wollen wir berauben?“

„Na, so ziemlich alle Leute. Auf der Straße auflauern — das ist so die rechte Manier.“

„Und töten die Kerls.“

„Nein — nicht immer. Sperren sie in die Höhle, bis sie sich auslösen.“

„Aus — was ist ‚auslösen‘?“

„Na — Geld zahlen. Man zwingt sie, daß ihre Freunde für sie alles, was sie auftreiben können, zusammenscharren; und wenn man sie ‘n Jahr festgehalten hat, und das Geld ist noch nicht da — dann tötet man sie. ‘s ist allgemeine Sitte so. Bloß die Frauen tötet man nie. Man sperrt sie ein, aber man tötet sie nicht. Sie sind immer ganz verdammt schön und reich und schrecklich furchtsam. Man nimmt ihnen die Uhren weg und alles, was sie sonst haben, aber man nimmt bei ihnen immer den Hut ab und ist furchtbar höflich. Niemand ist so höflich wie Räuber — du kannst das in allen Büchern lesen. Und dann — dann verlieben sich die Weiber in uns, und wenn sie ein oder zwei Wochen in der Höhle gewesen sind, hören sie auf, zu heulen, und noch später kannst du sie gar nicht wieder los werden. Schmeißt man sie ‘raus, kehren sie sofort um und kommen zurück. ‘s ist in allen Büchern so.“

„Na, das ist aber unangenehm, Tom. Glaub‘ doch, Pirat sein ist noch besser.“

„Ja, ‘s ist besser in manchen Dingen, aber Räuber sind näher bei zu Hause, und dann haben sie ‘n Zirkus und all das andere.“

Inzwischen waren sie herangekommen und krochen in die Höhle, Tom voran.

Sie gingen bis ans andere Ende des Ganges, befestigten ihre Drachenschnüre und setzten den Weg fort. Wenige Schritte brachten sie an die Quelle, und Tom fühlte einen kalten Schauder. Er zeigte Huck den noch an der Wand klebenden Rest des Kerzendochtes und beschrieb, wie er und Becky das letzte Aufflackern und Erlöschen der Flamme beobachtet hatten.

Die Jungen verfielen jetzt unwillkürlich in Flüsterton, denn die Stille und Finsternis des Ortes lasteten schwer auf ihrem Geist. Sie gingen weiter und bogen dann plötzlich in Toms anderen Gang ein, den sie bis zu dem „Abgrund“ verfolgten, an dem Tom hatte Halt machen müssen. Die Lichter zeigten ihnen jetzt, daß es ein solcher eigentlich nicht sei, sondern nur ein steiler Lehmabhang, zwanzig oder dreißig Fuß tief.

Tom flüsterte: „Jetzt will ich dir was zeigen, Huck!“ Er hielt die Kerze in die Höhe und sagte: „Schau‘ so weit um den Felsvorsprung herum, wie du kannst. Siehst du? Da — auf dem großen Felsblock über dir —“

„Tom, ‘s ist ein Kreuz!“

„Na, und wo ist deine ‚Nummer Zwei‘? ‚Unter dem Kreuz‘, he? Gerade dort, wo ich den Indianer-Joe sein Licht hinhalten sah, Huck!“

Huck starrte eine Weile auf das geheimnisvolle Zeichen und sagte dann mit zitternder Stimme: „Tom, laß uns machen, daß wir von hier fortkommen!“

„Wa — a — as? Und den Schatz hier lassen?!“

„Ja — hier lassen! ‘s ist sicher, Joes Geist spukt hier herum!“

„Denkt nicht dran, Huck, denkt nicht dran! ‘s ist ja nicht der Platz, wo er gestorben ist — der ist weit von hier an der Mündung der Höhle — fünf Meilen von hier.“

„Nein, Tom, ‘s ist nicht so. Er geht um, wo ‘s Geld liegt. Ich weiß, wie‘s bei den Geistern ist, so machen sie‘s.“

Tom begann zu befürchten, Huck könne recht haben. Mißbehagen beschlich ihn. Aber plötzlich kam ihm eine Idee.

„Schau doch, Huck, was für Schafsköpfe wir wieder mal sind! Indianer-Joes Geist kann nirgends umgehn, wo ‘n Kreuz ist!“

Diese Beweisführung schlug durch. Es ließ sich nichts dagegen sagen.

Tom machte sich als erster daran, rohe Stufen in die Lehmwand zu hauen. Huck folgte. Vier Gänge öffneten sich von der kleinen Höhlung aus, in der sich der bewußte große Felsen befand. Die Jungen untersuchten drei ohne Erfolg. In dem der Basis des Felsens am nächsten befindlichen fanden sie eine kleine Nische, in der sich eine Anzahl Wolldecken, ein alter Gürtel, ein paar Schinkenschwarten und die sauber abgenagten Knochen von zwei bis drei Hühnern vorfanden. Aber keine Geldkiste.

Die Jungen durchsuchten alles wieder und immer wieder — aber vergebens.

Dann meinte Tom: „Er sagte, unter dem Kreuz! Na, dies ist beinahe unter dem Kreuz. Unterm Felsen selbst kann‘s nicht sein, denn der sitzt zu fest.“

Sie suchten immer wieder und wieder und setzten sich schließlich mutlos nieder. Huck wollte nichts einfallen. Aber Tom sagte plötzlich: „Schau mal her, Huck! Auf der einen Seite des Felsens sind ‘n paar Fußspuren und Kerzen-Spritzer, auf der anderen Seite sind keine! Was meinst du nun? Bitt‘ dich, das Geld ist unter dem Felsen! Werd‘ mal gleich im Lehm nachgraben.“

„Kein übler Gedanke, Tom,“ entgegnete Huck mit Bewunderung.

Toms „echtes Barlow-Messer“ war im Nu heraus, und er hatte noch nicht fünf Striche getan, als er auf Holz stieß.

„Hoho, Huck, hörst du das?“ Huck begann ebenfalls zu graben und zu wühlen. Ein paar Bretter waren bald ausgegraben und beiseite geworfen. Sie hatten eine natürliche Spalte verborgen, die unter den Felsen führte. Tom kroch hinein und leuchtete, so tief er konnte, vermochte das Ende der Spalte aber nicht zu sehen. Er schlug vor, noch weiter zu forschen, kroch hinein und geradeswegs hinunter. Er folgte allen Windungen des Spalts, erst nach rechts, dann nach links, Huck immer hinterdrein. Plötzlich machte Tom eine kurze Wendung und schrie:

„Bei Gott, Huck, schau her!“

Es war die Geldkiste in einem kleinen Loch, daneben ein Pulverbehälter, eine Menge Flinten in verschiedenen Hüllen, zwei Paar alte Mocassins, ein alter Gürtel und ein paar Kleinigkeiten, alles gründlich durchnäßt durch das heruntertropfende Wasser.

„Gott im Himmel!“ schrie Huck, mit den Händen im Gold wühlend, „sind wir jetzt aber reich, Tom!“

„Huck, ich hab‘ ja immer drauf gerechnet. ‘s ist aber fast zu schön, um dran zu glauben, aber wir haben‘s mal sicher — endlich! Wollen‘s nicht hier liegen lassen, sondern mitnehmen; laß mal sehen, ob ich die Kiste aufheben kann!“

Die wog aber über 50 Pfund, Tom konnte sie mit großer Anstrengung ein bißchen heben, an Fortschaffen aber war gar nicht zu denken.

„Dacht‘s mir,“ meinte er. „Damals im Gespensterhaus trugen sie, schien‘s, schwer genug daran — merkt‘s wohl. Denk‘, ‘s wird gut sein, die kleinen Beutel herzunehmen.“

Bald war das Geld verpackt, und sie schleppten‘s heraus.

„Nun laß uns noch Gewehre und sonst so ‘n Zeug mitnehmen.“ schlug Huck vor.

„Nein, Huck, da lassen! Sind gerad‘ Sachen, die wir brauchen, wenn wir erst Räuber sind. Nehmen‘s seiner Zeit zu unsern Orgien; ‘s ist ein verdammt feiner Platz für Orgien.“

„Was sind Orgien?“

„Weiß nicht. Aber Räuber halten immer Orgien. also müssen wir doch auch welche halten. Nun komm‘ aber, Huck, wir sind hier lang genug gewesen. ‘s ist schon spät, denk‘ ich. Bin außerdem mächtig hungrig. Im Boot wolln wir essen und rauchen.“

Sie schlüpften also hinaus ins Sumachgebüsch, lugten vorsichtig herum, fanden die Luft rein und waren bald im Boot in vollem Schmausen und Rauchen. Als die Sonne sank, stießen sie vom Ufer und machten sich auf den Weg. Tom huschte im Zwielicht an die Küste heran, und kurz darauf landeten sie in voller Dunkelheit.

„Jetzt, Huck,“ sagte Tom, „wollen wir ‘s Geld auf dem Boden des Holzschuppens der Witwe verstecken, morgen komm‘ ich dann, wir können‘s zählen und teilen, und dann suchen wir im Wald ‘nen Platz, wo wir‘s sicher vergraben können. Jetzt halt dich mal ganz still und bewach das Zeug, bis ich hinlauf‘ und Benny Taylors kleinen Schubkarren leih‘. Bin in ‘ner Minute wieder da.“

Er verschwand, kehrte sogleich mit dem Karren zurück, legte die zwei kleinen Säcke drauf, befestigte zwei Drachenleinen dran und zog an, seinen Schatz hinter sich. Als die Jungen das Haus des Wallisers erreichten, standen sie still, um auszuruhen. Gerade, als sie sich wieder auf den Weg machen wollten, kam der Walliser heraus und rief:

„Hallo, wer da?“

„Huck und Tom Sawyer.“

„‘s ist gut! Kommt nur mit, Jungens, werdet schon überall gesucht. Na — vorwärts, sputet euch mal! Will den Karren für euch ziehen. Alte Ziegelsteine drin oder altes Metall?“

„Altes Metall,“ stotterte Tom.

„Dacht‘ mir‘s; alle Jungen machen sich mehr Mühe und brauchen mehr Zeit, um für sechs Pence altes Eisen zusammenzuscharren, als sie brauchten, um doppelt so viel Geld durch ordentliche Arbeit zu verdienen. Aber ist mal die menschliche Natur so!“

Die Jungen hätten gern gewußt, wozu die große Eile sei.

„Weiß nicht; werdet‘s sehn, wenn wir zur Witwe Douglas kommen.“

Huck sagte ein wenig beunruhigt — denn er war längst daran gewöhnt, unschuldig angeklagt zu werden: „Mr. Jones, wir haben‘s gewiß nicht getan!“

Der Alte lachte. „Na, weiß doch nicht, Huck, mein Junge. Weiß doch nicht, seid ihr mit der Witwe gut Freund?“

„J — a! Wenigstens ist sie immer freundlich mit mir gewesen.“

„Na also! Warum dann Angst haben?“

Die Frage war noch nicht ganz von Huck beantwortet, als er sich mit Tom in der Witwe Besuchszimmer gestoßen fühlte. Mr. Jones ließ die Karre draußen und folgte.

Das Zimmer war glänzend erleuchtet und alles, was irgend dazu gehörte, erschienen. Thatchers waren da, Harpers, Rogerses, Tante Polly, Sid, Mary, der Pfarrer, der Redakteur und viele andere, und alle mit feierlichen Gewändern angetan. Alle zeigten feierliche Mienen. Tante Polly wurde vor Verlegenheit blutrot und schüttelte den Kopf zornig gegen Tom. Niemand konnte indessen leiden wie die beiden Buben. Mr. Jones erklärte: „Tom war leider nicht zu Haus, so gab ich ihn auf, stieß aber gerade bei meiner Tür auf ihn und Huck — so bracht‘ ich sie denn Hals über Kopf mit hierher.“

„Und ‘s war recht von Ihnen,“ entgegnete die Witwe. „Kommt mit, Jungen.“ Sie zog sie in ein Schlafzimmer und sagte: „Jetzt wascht euch und zieht euch ordentlich an. Hier sind zwei neue Anzüge — Hemden, Strümpfe — alles da. Sie sind für dich, Huck, — nein, keinen Dank, Huck! — einer von Mr. Jones, der andere von mir. Denk‘, sie werden euch beiden passen. Zieht sie an. Wir wollen warten — kommt runter, wenn ihr schön genug seid.“

Damit ging sie.