König Otter und das Ruprechtsloch im Otterberg


Im Semmeringgebiet, auf dem großen Otter, stand vor undenklichen Zeiten ein großes, prächtiges Schloß, in dem der mächtige König Otter Hof hielt. Weithin waren ihm die Lande untertan, und ein stattliches Heer von Rittern und Reisigen gehorchte seinen Befehlen. Als sein Haar grau geworden war und das herannahende Alter seine Kräfte schwächte, wurde er der Herrschaft auf Erden überdrüssig. Er zerstörte sein Schloß auf dem Otter und zog sich mit seinem Gefolge in den Schoß des Berges zurück, wo er sich einen herrlichen Palast erbaute und seither in Ruhe und Frieden seine Tage verbringt. Da sitzt er nun in einem prunkvollen Gemach auf einem goldenen Thron in friedlichem Schlummer. Eine goldene Krone schmückt das edle Haupt, von dem die weißen Locken wallen, ein edelsteinfunkelndes Zepter liegt vor ihm auf dem marmornen Tisch. Um ihn herum ruhen seine Mannen, wie der Herrscher in tiefen Zauberschlaf versenkt.

Den Eingang zum unterirdischen Palast bewachen regsame Zwerge, die auch noch die Aufgabe haben, dem König zu Diensten zu sein, wenn er von Zeit zu Zeit mit seinem Hofstaat aus langem Schlaf erwacht. Dann befiehlt der König, ihm und seinen Edlen ein Festmahl zu richten, und alles Gesinde rührt und regt sich im Schloß. In ruhigen Nächten hört man zuweilen den Lärm vieler fröhlicher Stimmen und den lustigen Klang der Becher sowie rauschende Musik aus dem Berginnern dringen. Zu anderen Zeiten rollt es wie ferner Donner im Berg, dem dann ein kräftiger Schall folgt. Dieses Rollen kommt von der Kegelbahn tief unten im Berg, auf der sich die Bergmännlein gerne vergnügen. Manchmal gelüstet es den König, seinen unterirdischen Palast zu verlassen und mit seinem Gefolge einen Blick auf die Oberwelt zu tun. Da zieht er dann im Sturmgebraus über die Wälder des Otterberges hin, macht am Sonnwendstein kehrt und rauscht mit Getöse durch das Ruprechtsloch wieder in sein Felsenschloß zurück.

Einst wandelte einen armen Bauernburschen die Neugierde an zu erfahren, wie es unten im Ruprechtslos aussehe, und ob wirklich in der Tiefe goldene Zapfen von Decke und Wänden der Felsengewölbe herabhingen. Er ließ sich von zwei Kameraden in den schwarzen Schlund hinabseilen. Aber als ihn die Dunkelheit der Höhle verschlungen hatte, wurde ihm unheimlich, und er rief mit lauter Stimme zu seinen Freunden hinauf, sie möchten ihn wieder hinaufziehen. Der Schall seiner Stimme brach sich an den Felswänden und drang den beiden Burschen oben beim Eingang zur Höhle so schauerlich in die Ohren, dass sie entsetzt das Seil losließen und davonstoben. Der Bursche plumpste in die Tiefe hinunter, zerschund sich Hände und Knie, blieb aber sonst unversehrt. Mit schmerzenden Gliedern rappelte er sich auf und suchte einen Ausweg aus dem düsteren Gewölbe. Lang irrte er umher, aber immer wieder hemmten steile Felswände seinen Schritt, kein Lichtstrahl zeigte ihm einen Weg ins Freie. Schon hatte er alle Hoffnung auf Rettung aufgegeben und setzte sich mutlos und verzagt auf einen Felsblock hin, als urplötzlich ein kleines Männchen vor ihm stand, das ihn fragte, was er hier tue.

Der Bauernbursch faßte sich ein Herz und klagte dem Zwerg, wie er hieher gekommen, und dass er vergebens nach einem Ausgang aus der Höhle gesucht habe. »Ich bitte dich flehentlich«, rief er schließlich aus, »zeige mir einen Weg an die Oberwelt!«

Da lächelte der Zwerg und meinte: »Folge mir, aber achte genau, wohin ich trete!« Der Bursch tat dies, und sie wanderten eine lange Strecke durch den Berg, bis sie zu einer Kegelbahn kamen, auf der lauter silberne Kegel aufgestellt waren, die Kugel aber, die daneben lag, war aus purem Gold. Vor der elfenbeinglatten Bahn saß eine Schar von Zwergen und trank duftenden Wein aus goldig schimmernden Bechern.

»Wenn du uns Kegel aufsetzt«, sagte einer der Zwerge zu dem Burschen, »kannst du dir dann einen davon mitnehmen.« Der Junge war damit einverstanden, und als die Zwerge sich genügend belustigt und ihr Spiel beendet hatten, nahm er den größten Kegel an sich. Nun führte ihn sein Begleiter durch Hallen und Gänge weiter bis zu einem großen Tor an der Ostseite des Berges. Hier verabschiedete sich der Bursche von dem Zwerg und dankte ihm für seine Freundlichkeit.

»Wenn du dich wirklich dankbar erweisen willst«, sagte der Zwerg, »so bring mir ein Geschenk von der Oberwelt.«

»Und was soll denn das sein?« fragte der Bursche.
Am liebsten sind mir Weinbeeren und Rosinen«, erwiderte das Männchen, das scheinbar Verlangen nach Süßigkeiten hatte und derlei im Berg nicht auftreiben konnte. Aber schon schloß sich der Berg, und der Zwerg war verschwunden.

Am folgenden Morgen begab sich der Bursche mit einer ordentlichen Tüte voll getrockneter Weinbeeren und Rosinen auf den Otter. Aber als er beim Felsentor ankam, war es fest verschlossen, und er hatte gestern auch keine Zeit mehr gefunden, um das Sprüchlein zu fragen, mit dem es zu öffnen war. Ratlos verharrte er eine Weile. Da sich aber nichts rührte, legte er seine Gaben auf einen Stein am Tor nieder und trat den Heimweg an.

Inzwischen hatte sich der Himmel umdüstert, schwere Nebel zogen über den Berg hin. Obwohl es nicht regnete, kam es dem Burschen doch vor, als ob seine Kleidung immer schwerer würde, so dass er sie wahrhaftig als eine drückende Last empfand. Als er sich zu Hause der Kleider entledigte, bemerkte er zu seiner freudigen Überraschung, dass Rock, Hose und Hut mit lauter kleinen Goldtropfen dicht bedeckt waren. So reich hatte ihn ungesehen und unbemerkt das Männlein aus dem Otterberg sein Geschenk von Weinbeeren und Rosinen vergolten. Der arme Bauernbursche hatte es von nun an nicht mehr nötig, auf Goldsuche im Ruprechtsloch auszugehen.