Das Loferer Fräulein


Bei Lofer ist eine große Höhle in den Steinbergen, das Loferer Loch, in dem ein verzaubertes Fräulein wohnt, das große Schätze besitzt Die Schöne darf ihre Behausung nicht verlassen und muß den Schatz bewachen, bis es einmal einem Menschen gelingt, zu ihr vorzudringen und sie von ihrer Verzauberung zu erlösen. Manche haben es schon versucht, aber noch keinem ist es gelungen. Vor dem Eingang der Höhle dehnt sich nämlich ein weiter, tiefer Tümpel aus, der jeden verschlingen würde, der sich darüber wagt; denn nur sündenreine Menschen dürfen ohne Gefahr das Wagnis unternehmen. Aber einmal wäre die Erlösung fast doch geglückt. Und das kam so:

Im Dorf lebte ein armes Ehepaar, das Not und Sorge genug hatte und manchmal nicht wußte, wie es den Hunger seiner beiden Kinder stillen sollte. Oft blieb den armen Eltern nichts anderes übrig, um das Elend zu lindern, als ihre Kinder in Begleitung eines alten Bettlers von Haus zu Haus zu schicken, damit sie die Leute um milde Gaben anflehten. Einmal nun führte der Bettler die Kinder zum Loferer Loch und sagte, sie möchten da hineingehen, sie würden drinnen gewiß eine große Gabe erhalten. »Ich selbst kann nicht mitgehen«, meinte er; »denn mir ist der Eingang durch das Wasser verschlossen, ihr aber werdet ganz sicher hindurchkommen. Ich will euch hier draußen erwarten.« Die Kinder, die noch keine Sünde kannten, kamen auch richtig trockenen Fußes zur Höhle hinein und gelangten bald zu einer schönen grünen Wiese, auf der zwei prächtige Häuser standen. Nicht lange darauf zeigte sich eine liebliche Jungfrau, an die sich die Kinder mit der Bitte um eine kleine Gabe wandten.

Die Jungfrau hörte ihre Bitte lächelnd an und lud sie freundlich ein, ins Haus mitzukommen, wo sie die beiden Kinder in ein wunderschön gestaltetes Zimmer führte, wie es die Kleinen noch nie gesehen hatten. Sie setzte ihnen zu essen und zu trinken vor, munterte sie auf, nur fest zuzugreifen, und sagte: »Für heute kann ich euch nichts mehr geben; aber bleibt die Nacht über bei mir, dann sollt ihr morgen so viel bekommen, als ihr nur tragen könnt, und euren lieben Eltern wird damit geholfen sein. Und merkt euch gut: Was immer ihr auch bei Nacht sehen und hören werdet, und sei es noch so gräßlich, habt keine Angst und fürchtet euch nicht; denn der liebe Gott ist mit den guten Kindern, und euer Schutzengel behütet euch! Wenn ihr tut, was ich euch morgen sagen werde, könnt ihr mich sogar erlösen, und ihr werdet reich und glücklich werden.«

Nach dem Essen führte die Jungfrau die beiden Kinder in ihr eigenes Schlafzimmer, wo schon zwei schöne Bettchen für die Kleinen bereit gemacht waren und sie auch gleich einschliefen. Um Mitternacht weckte sie lautes Flammengeprassel und heller Feuerschein aus dem Schlummer auf. Als sie erschrocken auffuhren, sahen sie das Bett des Fräuleins in lodernden Flammen stehen; sie selbst aber wälzte sich schmerzlich stöhnend in den Flammen hin und her. Und sooft das Feuer zu verlöschen drohte, bemerkten sie unheimliche Spukgestalten, die den Brand wieder anfachten und mit schrecklichen Gesten um das glühende Lager herumsprangen. So schaurig war dieses fürchterliche Geschehnis anzusehen, dass die Kinder vor Angst wie von Sinnen waren und weinend aus dem Bett sprangen, bis eine wohltätige Ohnmacht sie von dem schrecklichen Anblick erlöste.

Als sie am Morgen wieder erwachten, war alles wie am Tag zuvor; das Bett der lieblichen Jungfrau war unversehrt, und sie selbst blickte die Kinder heiter und milde an. Da meinten sie, einen schweren Traum gehabt zu haben. Die Jungfrau aber sagte, sie hätten richtig gesehen, und jede Nacht müsse sie solche Qualen durchmachen. »Nur unschuldige Kinder wie ihr«, fügte sie hinzu, »können mich von meiner Qual erlösen.« Hierauf nahm sie die Mehlsäcklein der Kinder, füllte sie mit Goldstücken an und befahl ihnen, heimzugehen und das Geld ihren Eltern zu geben.

»Und sagt euren Eltern«, fuhr sie fort, »sie sollen auch allen wahrhaft bedürftigen und würdigen Armen in ihrer Not mit dem Geld beistehen. Nur dem alten Bettler, der euch hierhergeführt hat, dürfen sie nichts geben; denn er ist ein böser, schlechter Mensch. Ihr dürft auch nicht dort hinausgehen, wo ihr hereingekommen seid; denn der böse Bettler wartet auf euch; er würde euch das Geld wegnehmen und euch töten. Nun merkt euch meine Worte und richtet euch genau danach! In dreimal sieben Tagen aber kommt wieder hierher, dann wollen wir weiter darüber reden, wie ihr mich erlösen könnt.«

Die Kinder versprachen, alles getreulich auszurichten, und machten sich auf den Heimweg. Die Jungfrau begleitete sie über die Wiese hinweg und zeigte ihnen einen verborgenen Gang ins Freie, wo sie, ungesehen vom Bettler, die Höhle verlassen konnten.

Nun liefen die Kinder mit freudig klopfenden Herzen nach Hause, stellten mit glänzenden Augen ihre Goldsäcklein auf den Tisch und erzählten abwechselnd, was sie erlebt und was das schöne Fräulein ihnen aufgetragen hatte. Mit frohen Gesichtern hörten die armen Leute die Erzählung ihrer Kinder und gedachten dankbar der gütigen Spenderin, als sie ihren Reichtum sahen. Nun hatte alle Not ein Ende, und ein nie gesehener Überfluß herrschte in Küche und Keller. Auch die Armen erhielten reichlich ihren Anteil, nur der böse Bettler ging leer aus. Der aber wußte jammervoll zu weinen, tat so, als ob er der rechtschaffenste Mensch wäre, und sprach anklagend vom Undank der Leute, die durch ihn reich geworden seien, dass die Kinder und ihre Eltern schließlich ganz gerührt wurden und meinten, es geschähe dem armen Mann bitteres Unrecht. Und so schenkten sie ihm aus Dankbarkeit eine schöne Summe Geld.

Als dreimal sieben Tage um waren, gingen die Kinder, wie die Jungfrau gesagt hatte, wieder zur Höhle. Aber diesmal stand der Eingang tief unter Wasser, und sie vermochten nicht durchzukommen. Auf der anderen Seite des Tümpels stand die Jungfrau und rang schmerzlich die Hände. Der Bettler aber, der den Kindern nachgeschlichen war, stand hinter den Kindern und stieß ein boshaftes Gelächter aus. »Nun ist's mit der Erlösung zu Ende«, schrie er, sich die Hände reibend; »denn schon euer Ungehorsam gegen das Verbot des Fräuleins, mir Geld zu geben, ist Sünde, und sündige Menschen können nie die Höhle betreten.« Schadenfroh kichernd ging der Alte davon.

Seit dieser Zeit ist es noch niemand gelungen, die »Höhle bei Lofer« zu betreten. Das schöne Fräulein wartet immer noch auf das reine, unberührte Menschenkind, das es von seinen Qualen erlösen wird.